Menschliches, Allzumenschliches, I und II. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.Taschenbuch
1876 beginnt der kranke Friedrich Nietzsche während eines Kuraufenthalts in Sorrent mit den Aufzeichnungen zum ersten Teil seiner Schrift Menschliches, Allzumenschliches (1878-1886), die vor allem dem Gedanken verpflichtet ist, dass alle vermeintlichen Wahrheiten menschlicher Moral, Religion oder Kultur "vielleicht im letzten Grunde falsch" sein könnten. Diese erschreckende Erkenntnis -- "meine einzige Beschäftigung außer meinen ewigen Schmerzen" -- erscheint Nietzsche selbst als Qual. Denn auch "dies einzusehen kann tiefe Schmerzen machen", heißt es in Menschliches, Allzumenschliches. "Aber danach gibt es einen Trost: solche Schmerzen sind Geburtswehen. In Menschen, welche jener Traurigkeit 'fähig' sind, wird der erste Versuch gemacht, ob die Menschheit aus einer 'moralischen' sich in eine 'weise Menschheit umwandeln könne'". So gipfelt Menschliches, Allzumenschliches, das nun in einer Neuauflage als zweiter Band der verdienstvollen Kritischen Studienausgabe Giorgio Collis und Mazzino Montinaris vorliegt, letztendlich in der Idee, dass eine "Umwertung aller Werte" nicht nur möglich, sondern auch dringend vonnöten sei. Nietzsche hat diese Forderung nach existentieller Autonomie auch sprachlich experimentell umzusetzen versucht: Deshalb ist Menschliches, Allzumenschliches das erste Werk des Philosophen, in dem er sein offenes, aphoristisches Verfahren konsequent zu Ende denkt. Nicht nur ein Buch für freie Geister also, wie es im Untertitel heisst, sondern auch das Buch eines freien Geistes, das mit der Parabel "Die Gefangenen" nicht zuletzt eine viel schönere Variante der berühmten Erzählung "Der tolle Mensch" mit ihrem Ausruf "Gott ist tot!" aus der Fröhlichen Wissenschaft (1881/1882) enthält. In Menschliches, Allzumenschliches ersehnte sich Friedrich Nietzsche am gottlosen Firmament "die Sonne eines neuen Evangeliums". Auch wenn die Hoffnung trügerisch gewesen ist: Das blendende Evangelium zum neuen Gestirn zumindest hat er mit seinem Buch selbst geschrieben. --Thomas Köster
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