Rügen & Hiddensee 2007Kalender
Susan Sontags neuer Roman In Amerika beginnt gar nicht in Amerika. Vielmehr ist der erste Raum, den die erfolgreiche US-Autorin und Essayistin imaginiert, der Speisesaal eines Hotels. Hier erfindet die Ich-Erzählerin den versammelten Gestalten, deren Sprache sie nur im Ansatz versteht, im Kapitel "Null" -- in einer Geschichte vor der Geschichte also -- neben Namen auch fiktive Biografien. Figuren, "deren Land von der Karte Europas verschwunden war": Die Hotelhalle wird zum Raum der Fantasie, in dem Werte wie "wahr" und "falsch" keine "Rolle" mehr spielen und die Erzählerin in die erdichtete Vergangenheit zurückreisen kann. Denn die "Vergangenheit ist das größte Land überhaupt, und es gibt einen Grund dafür, dass man sich dem Wunsch beugt, eine Geschichte in der Vergangenheit anzusiedeln". Die Vergangenheit von In Amerika, die im Kapitel "Eins" beginnt, das ist das Polen des 19. Jahrhunderts, in dem die erfundene Schauspieltruppe ein eher kärgliches Dasein fristet. Deshalb beschließt man, nach Amerika auszuwandern: Maryna, Bogdan, Tadeusz, Ryszard und die anderen zieht es aus Warschau über den Ozean. Dieses Amerika nun beschwört Susan Sontag in grandiosen Dialogen über Zufall und Hoffnung, Heimat und Fremde oder die Notwendigkeit von Paradiesen sowie in faszinierenden Erzählpassagen -- und einem beeindruckenden Schlussmonolog -- herauf. Der alte Topos der Welt als Bühne ("Auch Gott ist ein Schauspieler") bekommt so einen neuen Sinn. "Ein Roman", behauptet die Ich-Erzählerin von In Amerika, "ist wie ein In-achtzig-Tagen-um-die-Welt". Er "muß irgendwo anfangen, beispielsweise in einem Raum. Wir alle tragen den Raum mit uns herum, der darauf wartet, mit Möbeln und mit Menschen gefüllt zu werden". Sontag hat den Erzählraum ihres Einwanderer- und Auswandererromans mit einem sprachlich wundervoll farbigen Interieur ausgeschmückt. Und lebendig sind ihre doppelt fiktiven Theaterhelden auch. --Stefan Kellerer
|